Der Geiger im Ohr

Den größten Teil meines Lebens habe ich in einer Kinderkrippe gearbeitet. Immer Trubel. Immer Kinderlachen. Das war schön. Aber auch anstrengend. Später habe ich dann umgeschult und in einer Apotheke gearbeitet. Ich habe mich auf meinen Lebensabend gefreut. 1994 tauchte es das erste Mal auf. Dieses Geräusch. Als wenn ein unsichtbarer Geiger einen unendlich langen Bogen über eine Saite zieht.

Tinnitus, nannte mein Hausarzt den Geiger. Und verschrieb mir Tabletten für eine bessere Durchblutung. Mehr könne er nicht tun. Wenn ich Glück habe, höre der Mann im Ohr auf zu fiedeln. Tagsüber achtete ich nicht auf ihn. Ich war abgelenkt. Die Stimmen in der Apotheke, die Autos auf der Straße übertönten ihn. Aber am Abend, wenn es still wurde und ich schlafen ging, wurde es laut im Ohr. Der Ton blieb. Und die Tabletten halfen nicht. Eines Tages las ich die Annonce einer Tinnitus-Selbsthilfegruppe. Da gehst du mal hin, sagte ich mir. Das guck’ste dir mal an. Und da saßen dann 20 Leute. Ich erzählte von meinem Fiedler. Und hörte zu. Bei dem einen saß ein ganzes Orchester im Ohr, bei dem anderen nur ein Trommler. Und ich begriff, hier geht es nicht um Musik. Hier geht es um Schmerz.

Was kann da eine Selbsthilfegruppe tun? Was, wenn kein Arzt helfen kann? Wenn die Pharmaindustrie kaum forscht? Und Scharlatane aus dem Schmerz der Betroffenen Geld schlagen wollen? Das fragte ich mich und fand heraus: Bis heute ist die Selbsthilfegruppe die einzige Medizin. Aber Du kannst sie dir nur selbst verschreiben. Sie bringt die klänge im Ohr nicht zum Schweigen. Aber sie lenkt ab und saugt Kummer auf. Hier kannst du auch mal Witze über die Musik im Ohr machen. Oder anderen die Tränen trocknen. Schwerer Tinnitus ist Terror. Lärm ist eine Foltermethode. Folter ist geächtet. Tinnitus ist Folter, mit der wir leben müssen. Die Selbsthilfegruppe hat mir geholfen, diese Erkenntnis anzunehmen.

Wirklichen Rat, ausreichende Unterstützung gibt es nicht. Wir fühlen uns oft allein gelassen. Wir würden gern mal einen Psychotherapeuten einladen, der uns erzählt, welche Methoden der Ablenkung funktionieren. Bisher haben wir aber noch niemanden gefunden.

Ich glaube, das ist es, was wir in unserer Selbsthilfegruppe seit Jahren tun – uns beizubringen, wie wir unser Los tragen und die Wahrheit (er)tragen können. Ich finde, das ist eine wichtige Sache. Zu viele Tinnitus-Kranke ziehen sich in sich selbst zurück. Die Folge sind oft schwere Depressionen, die nicht erfolgreich behandelt werden können, weil die Ursache nicht behandelbar ist. Soziale Kommunikation einer Selbsthilfegruppe kann da wirklich helfen, ein Stück Lebensqualität zurückzugewinnen. Das ist meine eigene Erfahrung. Deswegen habe mich entschlossen, vor einigen Jahren die Leitung der Selbsthilfegruppe zu übernehmen.

Renate Gössel, 69
Tinnitus-Selbsthilfegruppe, Perleberg

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