Anderen Leid ersparen

Ich wollte nie so aussehen wie meine Mutter, die sehr dick war. Und doch wog ich schon als Kind 74 Kilogramm. Die Lehrer in meiner Schule in Bayern waren streng, ließen nicht zu, dass man mich mobbte oder hänselte. Und ich? Kämpfte verzweifelt gegen mein Gewicht, ging reiten, zum Line-Dance, lief jeden Tag eine Stunde durch den Wald, machte Pilates und versuchte weniger zu essen.

Der Sport sollte helfen, dass ich abnehme, mich besser fühle. Stattdessen hatte ich Schmerzen in den Beinen. Oft blaue Flecke. Ich dachte, das muss mit meinem Gewicht zu tun haben. Und trainierte nur noch verbissener. Doch was ich auch tat, stets musste ich unten zwei Konfektionsgrößen größer kaufen als oben. Für eine Frau Horror, ein psychisches Drama…

Krankenschwester wollte ich werden. Ausbildung in einer Klinik. Plötzlich: Epilepsie! Aus der Traum von der Krankenschwester. Mit einem Behindertenausweis in der Tasche erlernte ich den Beruf einer Industriekauffrau. Doch dann wollte niemand Industriekaufleute haben. Sozialhilfe. Nochmal Umschulung. Zur Pflegerin. Und in all der Zeit trieb ich immer extremer Sport. Die Schmerzen? Wurden chronisch. Niemand kann sich die mit dieser Krankheit verbundenen Schmerzen vorstellen. Man tippte auf Rheuma, Hämophilie. Ich rannte von Arzt zu Arzt.

Es dauerte 25 Jahre, bis mir eine Ärztin erklärte, dass ich am Lipödem leide. Einer Fettverteilungsstörung, die von Müttern auf ihre Töchter vererbt wird. Wir kamen sofort in eine Reha-Klinik in Zechlin. Ich erlebte zum ersten Mal seit meiner Kindheit schmerzfreie Tage. Mit den Jahren war ich kontaktscheu geworden. Ich wollte nicht auf Fragen zu meinem Aussehen antworten. Keine verletzenden Bemerkungen mehr hören Jetzt, wo ich wusste, was mit mir los war, blickte ich anderen wieder in die Augen.

Dieser Blick war meine Kampfansage, mein Start in ein neues Leben. Man empfahl mir, mich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Doch so sehr ich auch suchte, es gab weder eine in Berlin noch in Brandenburg. Ich verstand das nicht. Es gibt so viele Betroffene. Ihre Leiden kann man lindern, Depressionen und Selbstmorde verhindern, Millionen an Kosten sparen. Man muss nur das Wissen über die Krankheit zu den Betroffenen bringen.

Die erste Selbsthilfegruppe gründete ich dann zusammen mit einer Ärztin in Kloster Lehnin, einer Expertin der AWO und sieben anderen Betroffenen. Schnell begriffen wir, wie sehr uns das gefehlt hatte. Wir alle sprechen zuhause nicht über unsere Probleme. In der Selbsthilfe reden wir über alles, über Flachstrickstrümpfe genauso wie über Hautpflegemittel. Ich bin eine Macherin. Ich möchte, dass unsere Gruppe auch eine Wissensbörse ist. Sie soll helfen, unsere Lebensqualität zu verbessern. Aber auch eine Mission erfüllen: Wir wollen weiteres Leid verhindern. Deswegen halte ich auch Vorträge vor Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Ärzten. Damit die Krankheit früh erkannt wird. Und anderen das erspart bleibt, was ich, was wir durchmachen mussten…

Simone Seitz-Rhona, 53
Selbsthilfegruppe Lipödem/Lip-Lymphödem, Kloster Lehnin

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