Allein ging nichts mehr

Die Wende? Meine Frau und ich haben sie gemeistert. Wir haben drei Kinder großgezogen. In unserer Familie wurde viel gelacht. Arbeitslos war ich nie. Krank auch nicht. Es gibt Berufe, die werden immer gebraucht. Köche zum Beispiel, die ihren Beruf lieben. Ich war so ein Koch. Viele Jahre leitete ich ein Team von sechs Leuten. Wir kochten für eine Kindertagesstätte. 300 Portionen am Tag. Es war eine gute Arbeit. Ich war ein glücklicher Mensch.

Man sieht ihn nicht, den Moment, in dem sich alles zu ändern beginnt. Erst wurden Leute entlassen. Dann in meine Küche nicht mehr investiert. Geräte fielen aus. Die 300 Portionen? Wurden dennoch verlangt. Irgendwann waren wir nur noch zu zweit. Und immer noch denkst du: Alles ist zu schaffen! Dabei war es da schon zu spät. Und ich längst ein anderer Mensch: Warum fauchte ich meine Frau bei jeder Kleinigkeit an? Wann hatte ich das letzte Mal gelacht? Wo waren meine Freunde hin? Die Familienfeiern, die ich so liebte, jetzt waren sie mir ein Graus. Die rote Lampe an meinem Akku leuchtete schon lange, als es passierte. Ich rastete aus, schrie die für alles Verantwortliche an. Und fiel ohnmächtig um. Tiefenentladung. Leere. Blaulicht. Ich erwachte in der Notaufnahme…

Mein Hausarzt riet mir dann zu einer psychotherapeutischen Behandlung. Ich und Klapse? Soweit kommt’s noch! Eine Woche später folgte ich seinem Rat. Die Ärztin blickte in die Akte. ‚Herr Bennewitz‘, sagte sie, ‚in ihrem Zustand kann ich sie nicht gehen lassen‘. Die Diagnose: Schwere Depression. Ich dachte: Was erzählt diese Frau? Ich dachte: In ein paar Tagen bist’de wieder fit. Aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen Monate, aus den Monaten ein halbes Jahr. Ich dachte an Selbstmord. Eines Nachts stürzte sich eine Frau aus meiner Therapiegruppe vom Dach. Und ich begriff: Allein schaffst du’s nicht mehr zurück ins Leben.

Nach der Reha empfahlen mir die Ärzte eine Selbsthilfegruppe. Ich war zwar noch immer leer, aber dank der Reha doch bereit, meinen Akku wieder aufzuladen. Ich wusste noch nicht wie. Aber der erste Schritt war klar: Ich musste wieder Struktur in mein Leben bringen. Die Besuche in der Selbsthilfegruppe sollten mir diese Struktur geben. Ich ging mit Angst. Würde ich hier in einem „Club der Lebensmüden“ landen? Ich ging hin. Hörte den anderen nur zu. Ein halbes Jahr akzeptierten sie mein Schweigen. Dann begann ich zu sprechen. Über mich. Meine Gefühle. Über das, was ich erlebt hatte. Und die rote Lampe an meinem Akku sprang auf orange.

Ich geh noch immer zu meiner Selbsthilfegruppe. Ich habe Freunde dort. Wir haben dasselbe erlebt. Wir verstehen uns. Auch ohne Worte. Wir treffen uns. Auch mit unseren Familien. Wir leben wieder. Als ich das erste Mal wieder lachte, weinte meine Frau. Heute engagiere ich mich selbst als einer der Sprecher unserer Selbsthilfegruppe für Menschen mit depressiven Störungen. Wir sind die „Morgensterne“. Die Lampe auf meinem Akku zeigt jetzt grün…“

Steffen Bennewitz, 62
Selbsthilfegruppe für Menschen mit depressiven Störungen

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