Menschen Halt geben

In meinem Leben habe ich viel gemacht. Lehre als Friseurin, Studium zur Ingenieurökonomin. Da hatte ich bereits drei Kinder. Ich arbeitete in einer Garnfabrik, in einer Projektierungsfirma, in der Wohnungswirtschaft. Dafür hatte ich kurz vor der Wende noch eine erneute Ausbildung absolviert. Meine Kinder bauten inzwischen eigene Häuser. Die Familie war zusammen. Alles schien in Ordnung.

1991 machten wir einen Ausflug. In den Harz. Auf den Brocken. Als wir wieder hinabstiegen, schlotterte plötzlich eines meiner Knie, flatterte wie ein Segel. Wie ich hinuntergekommen bin? Ich weiß es heute gar nicht mehr. Ich war bis dahin in meinem Leben nie krank gewesen. Wenig später erfuhr ich: Ich habe MS – Multiple Sklerose. Von dieser Krankheit hatte ich noch nie gehört. Und ich dachte: Die Ärzte ham‘nen Vogel. Da hatten wir gerade die Wende gemeistert. Und nun das.

Bücher. Wir haben mit den Kindern Bücher gewälzt. Die waren inzwischen 20, 25. Es war für alle ein Schock. Ich hab erst nicht geglaubt, was ich da gelesen habe. Ich wollte nicht wahrhaben, was da auf mich zukommen, dass ich schon bald im Rollstuhl sitzen könnte. Man hatte mir schon früh empfohlen, mich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Da saßen dann fünf Leute, jammerten über ihre Krankheit und tranken Kaffee. Da geh’ste nie wieder hin, sagte ich mir. Das will’ste nicht. Aber mein Mann sagte: Rosita, geh! Wenn’s dir nicht passt, ändere was!

Lasst uns nicht jammern, sagte ich den Leuten, als ich das nächste Mal hinging. Lasst uns die Krankheit verstehen. Lasst uns sie annehmen. Lernen wir, mit ihr umzugehen. Nach ein paar Jahren wählte mich die Gruppe zu ihrer Vorsitzenden. Da saß ich bereits im Rollstuhl. Ich wusste nicht, welche Prüfungen das Leben für mich noch bereithalten sollte. 2012 starb mein Mann. Meine älteste Tochter, in deren Haus ich lebte, kämpfte mit dem Krebs. 2014 starb auch sie. Dann trieb mich mein Schwiegersohn aus dem Haus…

Halt. Nie brauchte ich ihn nötiger, als in dieser Zeit. Die Selbsthilfegruppe gab ihn mir. Ich hatte eine Aufgabe. Kümmerte mich um Spenden. Gewann die damalige Cottbusser Bürgermeisterin als Schirmherrin. Ich fühlte mich gebraucht. Hatte die beiden anderen Kinder an meiner Seite. Das rettete mich in dieser schweren Zeit. Du darfst nicht negativ denken, mahnten mich viele aus meiner Selbsthilfegruppe. Das hast du uns doch selbst beigebracht. Auch das kann eine Selbsthilfegruppe: Einen aufrichten. Festhalten. Also weiter! Immer weiter.

Was ich spüre? Dankbarkeit. Ich meine nicht die offiziellen Auszeichnungen, auf die ich natürlich auch stolz bin. Ich meine die warmen Worte, die man mir sagte, als unsere Selbsthilfegruppe 25 Jahre alt wurde. Oder das bestickte Kissen, das mir eine Frau aus der Gruppe schenkte. Wochenlang hatte sie daran gearbeitet. Da begriff ich: Du hinterlässt Spuren. In anderen Menschen. Da fühlt man, dass es sich lohnt zu leben. Ob ich das ohne die Arbeit in der Selbsthilfegruppe so gespürt hätte? Ich glaube nicht…

Rosita Dräger, 76
Selbsthilfegruppe für Menschen mit Multipler Sklerose, Cottbus

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